Ein Kommentar von Franz Bergmüller, Metzgermeister, Immobilienunternehmer und bayerischer Landtagsabgeordneter aus Rosenheim:
Der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder hat Ende September auf Einladung der Schweizer Weltwoche an einer Podiumsdiskussion in Zürich teilgenommen. Neben Einblicken in seine Kindheit und seinen politischen Werdegang sprach der Altkanzler dabei auch über den Konflikt in der Ukraine. Weiterhin gab er eine Einschätzung zur Arbeit der heutigen Bundesregierung ab. Schröder betonte, wie weit sich die etablierte Politik in Deutschland von der Bevölkerung entfernt habe. Er kritisierte, dass die Spitzenpolitik zunehmend von Mandatsträgern ohne solide Ausbildung und berufliche Erfahrung geprägt werde. Dies führe zu immer kurzsichtigeren Entscheidungen und sei sowohl innen- als auch außenpolitisch fatal. In der Diskussion über die Ukraine bezeichnete Schröder den russischen Angriff als großen Fehler von Präsident Putin. Gleichzeitig betonte er, dass die Ursachen des Konflikts länger zurückliegen und beide Seiten eine gewisse Verantwortung für die Eskalation tragen. Diese Tatsache dürfe freilich nicht als Rechtfertigung des russischen Einmarschs missverstanden werden, jedoch habe Deutschland in seiner Russlandpolitik auch eine historische Verantwortung. Schröder erinnerte an die verheerenden Folgen des deutschen Überfalls auf die Sowjetunion 1941 und kritisierte in diesem Zusammenhang den derzeitigen Aufbau von Russland als neuem Feindbild. Bereits im Oktober 2023 fasste Schröder die russische Perspektive folgendermaßen zusammen:
„Russland fühlt sich bedroht […]. Diese Gefahrenanalyse mag emotional sein, aber sie ist in Russland real. Der Westen muss das verstehen und entsprechend Kompromisse akzeptieren, sonst wird Frieden schwer erreichbar sein“
Zur Situation der Ukraine warf er die entscheidende Frage auf: Sind Waffenlieferungen und militärische Unterstützung alleine ausreichend, um einen Frieden zu erreichen? Oder müsste nicht gleichzeitig mit allen politischen Mitteln auf ein Ende der Kampfhandlungen hingewirkt werden? Schröder betonte, dass man sich in dieser grundlegenden Frage nicht auf die USA oder China verlassen könne; diese Staaten seien weit weg, der Krieg finde jedoch mitten in Europa statt und sei mit militärischen Mitteln kaum zu beenden. Frankreich und Deutschland müssten als zentrale Mächte der EU in der Ukrainefrage geschlossen und unabhängig von den USA agieren – dieser Einschätzung kann man sich nur anschließen. Der frühere Bundeskanzler berichtete im weiteren Verlauf der Diskussion, dass die Bundesregierung ihn zu keinem Zeitpunkt um Vermittlung zwischen der Ukraine und Russland gebeten habe. Angesichts der bekanntermaßen guten Beziehungen zwischen dem Altkanzler und dem russischen Präsidenten ist dieses Versäumnis auf deutscher Seite kaum zu entschuldigen. Fest steht jedenfalls: Olaf Scholz und seine Regierung können nicht für sich in Anspruch nehmen, alle zur Verfügung stehenden Gesprächskanäle Richtung Kreml genutzt zu haben. Vor diesem Hintergrund ist die Befeuerung der Eskalationsspirale durch immer neue deutsche Waffenlieferungen geradezu fahrlässig. Schröder wurde jedoch von ukrainischer Seite zu einem inoffiziellen Gespräch in Istanbul eingeladen, an dem auch der heutige ukrainische Verteidigungsminister Rustem Umjerow teilgenommen hatte. Man erörterte dort unter anderem den vorübergehenden Verzicht auf eine Nato-Mitgliedschaft der Ukraine sowie eine Verschiebung der Krim-Frage in die Zukunft, um den Konflikt zumindest einzufrieren und damit das gegenwärtige Sterben zu beenden. Die Friedensverhandlungen in Istanbul wurden jedoch von ukrainischer Seite abgebrochen, nachdem Boris Johnson der Ukraine umfassende militärische Unterstützung zugesichert hatte – aus heutiger Sicht ein geradezu verheerendes Versprechen. Nach zweieinhalb Jahren Waffenlieferungen und hunderttausenden Toten auf beiden Seiten ist die ukrainische Verhandlungsposition schlechter denn je. Der Abbruch der Gespräche im März 2022 war also bereits ein Fehler; der währende Verzicht auf Verhandlungen auch im dritten Kriegsjahr ist jedoch eine unentschuldbare, historische Dummheit.