Ein Kommentar von Franz Bergmüller, Metzgermeister, Immobilienunternehmer und bayerischer Landtagsabgeordneter aus Rosenheim:
Die Desiderius-Erasmus-Stiftung veranstaltete Ende September einen Online-Vortrag zu Frage einer möglichen Eskalation des Ukrainekriegs und den damit verbundenen Auswirkungen auf die Sicherheit Deutschlands. Der Referent Walter Schwaebsch, Reserveoffizier mit langjähriger Verwendung im Verteidigungsministerium, erläuterte dabei vor allem die aktuelle Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr. Damit verbunden beschrieb er detailliert die aktuelle Situation im Ukrainekonflikt. Der Frontverlauf sei demnach seit rund zwei Jahren weitgehend unverändert, man befinde sich in einem Stellungs- und Abnutzungskrieg. Russland sei dabei aufgrund größerer materieller und personeller Kapazitäten im Vorteil. Die Ukraine verfügt kaum noch über Reserven und muss mit immer weniger Soldaten einen stark überdehnten Frontverlauf von rund 1300 Kilometern verteidigen. Dabei ist sie materiell weitestgehend von Waffenlieferungen und logistisch-technischer Unterstützung (z.B. bei der Wartung von Waffensystemen) aus dem Ausland abhängig. Zunehmende personelle Engpässe verschärfen die Lage aus ukrainischer Sicht, auch aufgrund zahlreicher Wehrdienstverweigerer. Allein in Deutschland befinden sich demnach rund eine Viertel Million ukrainischer Männer im wehrfähigen Alter.
Die NATO ist mit Beratern und Ausbildern auf ukrainischem Boden tätig, auch die US-Armee sei mit ihrer Security Assistance Group Ukraine in Kiev vor Ort. Weiterhin unterstützt der Westen die Ukraine mit Aufklärungsergebnissen und Luftaufklärung. Man könne demnach eine direkte Verwicklung der NATO in den Konflikt mittlerweile kaum noch abstreiten. Die Unterstützung der Ukraine durch deutsche Waffenlieferungen hat dabei nicht nur politische Auswirkungen, sondern schränkt auch die Verteidigungsfähigkeit der Bundeswehr zunehmend ein. Wertvolle Waffensysteme, die teilweise erst innerhalb von zehn Jahren ersetzt werden können, wurden aus der Hand gegeben. Während z.B. die USA noch über 4700 Kampfpanzer verfügen, sind es bei der Bundeswehr gerade noch 300 Fahrzeuge. Auch personell ist die Bundeswehr im Krisenmodus: Von rund 180.000 aktiven Soldaten sind nur rund ein Viertel tatsächlich in Kampfverbänden eingesetzt. In den 80er Jahren verfügten die deutschen Streitkräfte noch über eine halbe Million Soldaten sowie 1,3 Millionen Reservisten.
Neben der nurmehr eingeschränkten Landesverteidigung durch die Bundeswehr sei jedoch auch der Bevölkerungsschutz als zweite Säule der Verteidigungsfähigkeit kaum noch vorhanden. Verteidigungspolitische Ressourcen wie Lebensmittelvorräte, Trinkwasser, Energie, Schutzräume oder Entseuchungskapazitäten wurden seit den 90er Jahren sukzessive abgebaut. Um dieses Problem vermeintlich zu lösen, hat das Verteidigungsministerium kürzlich den „Operationsplan Deutschland“ vorgelegt. Dieser sieht eine Auslagerung des Bevölkerungsschutzes an Blaulichtorganisationen sowie die Zivilbevölkerung vor. Im Kriegsfall sollen also Ehrenamtliche und auch Zivilisten selbst die Verteidigungsfähigkeit aufrechterhalten, zum Beispiel durch Logistikleistungen und Versorgung der Armee. Diese Delegierung von militärischen Aufgaben in den zivilen Sektor sei jedoch völlig unrealistisch, da die Bevölkerung im Krisenfall mit der eigenen Versorgung beschäftigt ist.
Aus den genannten Problemen ergibt sich, dass die Bundeswehr ihre NATO-Zusagen und Bündnispflichten derzeit nicht erfüllen kann. Auch der vorgesehene Verteidigungshaushalt von 300 Milliarden Euro bis 2031 wird daran kaum etwas ändern, weil sich vor allem die personelle Situation der Armee nicht einfach mit Geld lösen lässt. Es liegt auf der Hand, dass ein derart maroder Zustand des Militärs auch heutzutage nicht hinnehmbar ist. Eine Ertüchtigung der Streitkräfte in allen Bereichen ist also unausweichlich. Dabei muss jedoch ein entscheidender Grundsatz gelten: Deutschland darf sich nicht an einem neuen Wettrüsten gegen den Osten, also einem Kalten Krieg 2.0 beteiligen. Dies muss vor allem gelten, solange nicht alle Gesprächskanäle mit Russland genutzt wurden. Auch aus ukrainischer Sicht drängt hier die Zeit, denn die Verhandlungsposition der Ukraine verschlechtert sich derzeit mit jedem Tag dramatisch. Die deutsche Haltung zur aktuellen geopolitischen Lage muss indes sein: Wer seine Armee mit Blick auf einen möglichen Konflikt hochrüstet, ohne zuvor jede (!) Möglichkeit einer friedlichen Lösung auszuloten, der trägt selbst zur weiteren Eskalation bei. Die Bundesregierung kann bislang nicht für sich beanspruchen, seit Beginn des Krieges ernsthaft das Gespräch mit der russischen Seite gesucht zu haben. Kanzler Scholz scheint dabei eines vergessen zu haben: Er schwört mit seinem Amtseid, Schaden vom deutschen Volk abzuwenden. Es ist fraglich, inwiefern ein militärisches Hochrüsten ohne glaubwürdige Versuche zur Deeskalation diesem Versprechen gerecht wird.