Ein Kommentar von Franz Bergmüller, Metzgermeister, Immobilienunternehmer und bayerischer Landtagsabgeordneter aus Rosenheim nach der Sonntagsdiskussion vergangene Woche zum Thema Afghanistan:
Mindestens eine Billion US-Dollar – so viel Geld investierten die USA und weitere Nato-Staaten in den zwanzigjährigen Militäreinsatz in Afghanistan. Der Großteil dieser enormen Summe wurde in den Kampf gegen die Taliban und al-Qaida investiert, wobei auch der deutsche Steuerzahler mit mindestens 17 Milliarden seinen Beitrag leisten durfte. Nur ein Bruchteil floss in den Aufbau des Landes, obwohl Afghanistan nach wie vor eines der ärmsten Länder der Welt ist. Es stellt sich also zwangsläufig die Frage: Waren diese Mittel gut angelegt? Welche Erfolge haben die Strategen der US-geführten Nato in Afghanistan vorzuweisen? Man muss weit ausholen, um diese Fragen beantworten zu können.
Bevor die Bundeswehr nach den Anschlägen des 11. September 2001 die ersten Soldaten nach Afghanistan entsandte, war das islamische Land im mittleren Osten kaum jemandem ein echter Begriff. Plötzlich aber sollte unsere Freiheit am Hindukusch verteidigt werden – so erklärte es jedenfalls der damalige Verteidigungsminister Peter Struck. Allein das deutsche Kontingent in Afghanistan wuchs über die Jahre auf 5000 Soldaten an. Exakt 3.449 Soldaten der westlichen Koalition ließen in Afghanistan ihr Leben, darunter 59 Deutsche. Insgesamt starben zwischen 2001 und 2021 mindestens 240.000 Menschen infolge des Konflikts, unter ihnen rund 50.000 Zivilisten. Der Einsatz hat also nicht nur Unsummen verschlungen, sondern auch großes menschliches Leid mitverursacht. Wir sollten uns offen fragen, ob es das am Ende wert war.
Die militärische und politische Bilanz des „War on Terror“ könnte vernichtender nicht sein: Die Taliban sind heute stärker denn je. Sie haben das Land nach dem Abzug der Nato im Sommer 2021 innerhalb weniger Wochen weitgehend kampflos übernommen. Die afghanische Armee, die durch die Nato unter enormem Aufwand für den Kampf gegen die Islamisten ausgebildet und hochgerüstet wurde, wollte nicht kämpfen. Die Soldaten fürchteten nach 40 Jahren Krieg eine neue Eskalation und legten die Waffen nieder. Zu präsent sind in Afghanistan noch die Erinnerungen an den Bürgerkrieg der 90er Jahre, in dessen Folge die Taliban zum ersten Mal an die Macht kamen. Nun haben sie das Land erneut erobert. Tausende gepanzerte Fahrzeuge, hunderttausende Schusswaffen bis hin zu einsatzbereiten Hubschraubern fielen den Kämpfern während ihres Vormarsches in die Hände.
Die Taliban riefen in der Folge das Islamische Emirat Afghanistan aus und bemühen sich seitdem um den Aufbau eines Staatswesens sowie um internationale Anerkennung. Dabei können sie erste Erfolge verbuchen: Russland und China, aber auch kleine Nachbarländer wie Kirgistan haben bereits diplomatische Beziehungen zu den Islamisten aufgenommen und stufen die Taliban teilweise nicht mehr als Terrororganisation ein. Man sieht in ihnen zunehmend einen Verbündeten im Kampf gegen den noch radikaleren Islamischen Staat, der in Afghanistan und anderen Ländern nach wie vor Anschläge verübt. Auch wirtschaftlich und politisch können die Taliban auf baldige Fortschritte hoffen: China zeigt lebhaftes Interesse an den umfangreichen Bodenschätzen, während sich Russland aktuell um diplomatische Zusammenarbeit bemüht. Kürzlich reiste der ehemalige russische Verteidigungsminister und heutige Sekretär des Sicherheitsrates, Schoigu, zu einem offiziellen Besuch nach Kabul. Es läuft also nicht schlecht für die Taliban – das ist für die westliche Militärallianz und jeden deutschen Afghanistanveteran geradezu ein Schlag ins Gesicht.
Nüchtern betrachtet kommt man allerdings zu dem Schluss, dass es für Afghanistan keine militärische Lösung geben wird. Diese Erkenntnis mussten auch bereits die sowjetischen Militärs akzeptieren, als sie das Land 1989 nach zehn Jahren vergeblichem Kampf gegen die Mudschahedin fluchtartig verließen. Die Afghanen lehnen jede Einmischung von außen ab und sind traditionell sogar ihrer eigenen Zentralregierung gegenüber äußerst skeptisch. Wer also meint, dem Land ein westliches Politikmodell aufzwingen zu können, versteht die afghanische Gesellschaftsstruktur nicht. Das bedeutet jedoch nicht, dass man Afghanistan abschreiben sollte. Die verheerende Armut und die andauernden Menschenrechtsverstöße können nicht einfach ignoriert werden, wenn man sich selbst humanitäre Werte auf die Fahnen schreibt. Die Aussetzung der zivilen Zusammenarbeit mit Afghanistan durch die Bundesregierung nach der Machtübernahme der Taliban war ein Fehler. Doch auch politisch gibt es schwerwiegende Gründe für Deutschland, sich näher mit der Situation am Hindukusch zu befassen. So leben in Deutschland mittlerweile rund eine halbe Million Afghanen, wovon tausende ausreisepflichtig sind. Abschiebungen nach Afghanistan sind jedoch ohne Koordination mit dem Taliban-Regime unmöglich, diese Tatsache ist nicht zu leugnen. Die diplomatischen Beziehungen ruhen derzeit weitestgehend, viele Gesprächskanäle wurden von deutscher Seite abgebrochen. Die deutsche Botschaft in Kabul wurde 2021 geschlossen und auch in Deutschland selbst regt sich Widerstand gegen die Zusammenarbeit zwischen afghanischen Konsulaten und der Taliban-Regierung. Diese Trotzhaltung ist kindisch und kontraproduktiv. Selbst das Auswärtige Amt hat im September 2024 eingeräumt, dass man über ein Verbindungsbüro in Katar „technische Gespräche“ mit den Taliban führe. Man muss kein Unterstützer der Islamisten sein, um die Tatsache anzuerkennen, dass sie jetzt nun einmal in Afghanistan regieren. Auch die UN ist vor allem mit der WHO nach wie vor im Land tätig, weil ein Abbruch aller Beziehungen die humanitäre Krise nur weiter verschärfen würde.
Es ist also an der Zeit, einen nüchternen Umgang mit dem afghanischen Volk und dem Taliban-Regime zu finden. Deutschland verfügte historisch betrachtet ab 1915 über gute Beziehungen zu Afghanistan und selbst heute noch sind die Deutschen vor Ort sehr beliebt. Dieses diplomatische Kapital darf nicht ungenutzt bleiben. Wer die Situation der Afghanen -und besonders der afghanischen Frauen- verbessern will, braucht ein Mindestmaß an politischem Einfluss. Das geht nicht mit der Verweigerungshaltung, die aktuell die Außenpolitik der Bundesregierung bestimmt. Zur Wahrheit gehört aber auch, dass wir in Afghanistan eigene Interessen haben. Tausende Afghanen in Deutschland sind ausreisepflichtig, viele davon sind straffällig geworden. Abschiebungen nach Afghanistan sind mittlerweile zumutbar, denn der militärische Konflikt ist vorüber und Meldungen über die Verfolgung von afghanischen Bürgern häufig übertrieben. Englischsprechende Taxifahrer in Kabul erzählen einem nicht selten, dass sie vor 2021 für die Nato gearbeitet haben und heute unbehelligt in Afghanistan leben können. Zwar gab es direkt nach der Machtübernahme vereinzelt Racheakte gegen sogenannte Ortskräfte, doch erließen die Taliban im Nachgang eine Generalamnestie für alle ehemaligen Nato-Mitarbeiter. Die Bundesregierung hatte trotzdem über ein Aufnahmeprogramm rund 48.000 Ortskräften die Einreise nach Deutschland genehmigt, was aus heutiger Sicht völlig unverhältnismäßig war. Das Außenministerium scheint jedoch immerhin lernfähig zu sein und lässt das Programm derzeit auslaufen – ein erster Schritt zur pragmatischen Neuausrichtung der Afghanistanpolitik.
Ich plädiere dafür, die deutsch-afghanischen Beziehungen neu zu beleben. Statt die unkontrollierte Einwanderung von überwiegend männlichen Afghanen zu fördern, sollten wir die Situation vor Ort verbessern und damit unseren Einfluss ausweiten. Eine echte Integration von Afghanen in Deutschland wird angesichts der kulturellen Unterschiede ohnehin nur in Ausnahmefällen gelingen. Wer einmal -wie einer meiner Mitarbeiter- selbst das Land bereist hat, dürfte diese Aussage sofort unterschreiben. Es gibt weder flächendeckend Strom noch Mobilfunk, die sanitären Verhältnisse sind katastrophal und der streng praktizierte Islam allgegenwärtig. Über 63 Prozent der Afghanen sind Analphabeten, beherrschen also nicht einmal die eigene Sprache vollständig. Wer so aufgewachsen ist, wird sich in einer westlichen Industrienation kaum zurechtfinden und mit einiger Wahrscheinlichkeit bereits an der Sprache scheitern. Die Migration aus Afghanistan löst jedoch die Probleme des Landes nicht. Millionen Menschen sind von medizinischer Versorgung und sauberem Wasser abgeschnitten, wobei besonders Frauen unter den harten Bedingungen leiden. Das von den Taliban verhängte Ausbildungsverbot für weibliches Gesundheitspersonal wird die Lage weiter verschärfen. Je dramatischer die Situation jedoch vor Ort ist, desto größer sollten unsere Bemühungen um diplomatischen Einfluss sein. Ein denkbarer Weg wäre eine verstärkte wirtschaftliche Zusammenarbeit. Wir können dieses Feld Russland und China überlassen, wie es derzeit der Fall ist. Oder wir bemühen uns selbst um wirtschaftliche Kooperation und nutzen diesen Hebel, um die Armut und damit auch die wesentliche Fluchtursache zu bekämpfen. Das Pro-Kopf-Einkommen in Afghanistan liegt bei rund 1.000 Dollar jährlich. Wer auf eine Verbesserung dieser desaströsen wirtschaftlichen Lage hinarbeitet, hilft damit am Ende der kriegsgebeutelten Bevölkerung eines der ärmsten Länder der Welt. Politische Isolation und harte Wirtschaftssanktionen bewirken wiederrum das genaue Gegenteil. Die westliche Wertegemeinschaft muss sich nun entscheiden, welchen Weg sie für zielführender hält.